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14. April 2022
Interview

„Kreative sind in der Regel fantastische Resonanzmenschen für Zeitgeist.“

Bei unserem „Who's That Type?“-Event mit unserem Partner Monotype am vergangenen Freitag war sie unser Überraschungsgast: Zeitgeistforscherin Kirstine Fratz! Was die geladenen Gäste von ihr lernen konnten, war nicht weniger als ein neuer Blick auf die Gegenwart. Warum Empathie dabei ein Schlüsselbegriff ist – und Kreative häufig am Anfang von Zeitenwenden stehen, das erzählt sie auch uns im ADC Interview.

Erst Corona, nun die nächste Krise, die globale und generationenübergreifende Folgen hat. Häufen sich solche einschneidenden Ereignisse oder täuscht der Eindruck? Und welche daraus resultierenden mittel- bzw. langfristigen Veränderungen erwartest du für unsere Kultur?

Der Eindruck täuscht ganz und gar nicht. Erst zwei Jahre Corona und nun der Krieg haben unser Gefühl von Sicherheit, Planbarkeit, Vertrauen etc. erschüttert. Wir haben kollektiv die Erfahrung der Hilflosigkeit gegenüber externen Ereignissen gemacht. Wir können weder das Virus noch den Krieg einfach so stoppen. Daher müssen wir die Probleme und Verluste sowohl menschlich, wirtschaftlich als auch emotional oft erst mal so hinnehmen. Viel mehr als Schadensbegrenzung war und ist vielerorts nicht möglich. Das hat uns ja erstmal aus dem funktionierenden Trott gerissen. Daraus entsteht natürlich eine neue Auseinandersetzung mit unseren Wünschen, Sehnsüchten und Zielen im Leben. Was dabei herauskommt sind wieder andere Vorstellungen vom Leben und der Welt, auf die Arbeitsmärkte, Familienpolitik, Konsum, Privatleben etc. langfristig reagieren werden. Nichts wird wieder wie vorher, wenn man auf dem Weg dahin so viele neue und extreme Erfahrungen gemacht hat. Wie genau sich das alles verhalten wird, gilt es mit der Zeitgeist Perspektive zu beobachten.

Im Gegensatz zu den eher oberflächlichen Trends hast du den Zeitgeist als Zugang zum kulturellen Unterbewusstsein ausgemacht. Wie können wir im Privaten wie auch Beruflichen von dieser Einsicht profitieren?

Zeitgeist orientiert sich an der kollektiven Sehnsucht einer Gesellschaft und nicht an der gegenwärtigen Vernunft. Sehnsucht ist oft heimlicher, subversiver und diffuser als die herrschende Vernunft und daher eher im Unterbewusstsein angesiedelt. Doch genau dieses Sehnen nach neuen Verhältnissen und schlummernden Ideen wie wir Leben wollen, macht die Sogkraft und Kreativität von Zeitgeist aus. Trends sind allerdings nicht einfach oberflächlich, sondern nur besser an der Oberfläche sichtbar. Denn hinter jedem Trend steht ein Zeitgeist. Trends sind sozusagen die Kinder des Zeitgeist. Nehmen wir das Thema Nachhaltigkeit, ein großer Zeitgeist der als kleine Sehnsucht begonnen hat und sich heute in unendlich vielen und drängenden Trends zeigt, die dabei sind, unsere Kultur zu transformieren. Oder schauen wir auf das Thema mentale Gesundheit. Lange ein belächeltes und auch tabuisiertes Thema und nun entwickelt es sich allmählich zum anerkannten Grundbedürfnis mit spannenden Phänomenen und Bewegungen dahinter, die sich früher keiner hätte vorstellen können. Unsere Zukunft hat viel damit zu tun, was wir uns heute nicht vorstellen können. Daher lohnt es sich auf dieses kleine Aufblitzen von kulturellem Unterbewusstsein zu achten, welches uns davon erzählt, was in die Gesellschaft integriert werden will, um unser Leben positiv zu verändern. Neue kollektive Sehnsüchte im kulturellen Unterbewusstsein zu erkennen und umzusetzen bedeutet Kultur-positiv zu handeln. Dadurch fördert man Zeitgeist, Fortschritt und kulturelle Evolution.

Empathie nimmt eine Schlüsselposition in deinem Verständnis der kulturellen Evolution ein. Müssen wir in einer unsicheren Zukunft noch besser aufeinander achtgeben?

Die Empathie hilft uns von unseren Erwartungen an Andere Abstand zu nehmen. Sie hilft uns weniger in „Du musst“ und „Du sollst“ zu denken, sondern mehr zu erkennen wo der / die / divers Andere hin möchte. Empathie ist für mich auch die Kunst auszuhalten, dass mein Gegenüber Sehnsüchte hat, die von meinen Erwartungen an die Person abweichen. Genauso verhält es sich in der Zeitgeist Forschung. Nicht wie die Kultur sein sollte oder eigentlich sein müsste ist entscheidend, sondern wo und wie sie sich anhand von Sehnsucht weiter entwicklen möchte ist relevant. Die Sehnsucht hat schon Kontakt zu Potenzialen die konstruktiver für unsere Zukunft sind, als alles was sich die herrschende Vernunft vorstellen kann. Aber dafür braucht es Empathie für das, was im Werden ist. Ich würde sogar noch eine Schritt weiter gehen. Es braucht Entwicklungsgroßzügigkeit, um neugierig zu beobachten was sich da verändern möchte im Sinne der kulturellen Evolution. Gerade in unsicheren Zeiten brauchen wir Empathie und Entwicklungsgroßzügigkeit für uns selbst, für die Anderen und unsere Kultur.

„Wer einmal verstanden hat, dass unsere kulturelle Struktur immer nur eine Momentaufnahme ist die wir ständig neu ausbalancieren müssen, (…)  kann viel schöpferischer die Zukunft mitgestalten.“

Was können wir – jeder für sich, aber auch in der Gemeinschaft – tun, um Lebensqualität und Zeitqualität zu verbessern?

Wir können damit anfangen dem Impuls zu widerstehen, alles gleich bewerten zu müssen. In der sofortigen Bewertung und Verurteilung reproduzieren wir nur unser begrenzte Meinung über etwas. So können wir nicht sehen, was im Werden ist. Viel spannender ist es, sich bei Merkwürdigkeiten oder irritierenden Phänomene die Frage zu stellen: „Was hat das zu bedeuten?“. Immer wenn etwas passiert gibt es auch etwas zu verstehen, das ist der Schlüssel um die neuen Chancen und Zeitgeist Angebote für Lebensqualität zu erkennen. Alles was vom System oder der herrschenden Struktur abweicht ist meist ein Zeichen dafür, dass dem System etwas fehlt für die Lebensqualität. Oft sind wir aber so in dem System gedanklich verfangen, dass wir erst denken die Abweichung ist schlecht oder krank. Oft erkennen wir erst sehr viel später, dass die Abweichung der Ausdruck einer relevanten Sehnsucht war, die darauf aufmerksam gemacht hat, dass für das System langsam die Zeit gekommen war abzutreten. Zeitgeist ist immer wieder die Erlaubnis, sich von den herrschenden Bedingungen zu erholen, in allen Formen und Farben. Wer einmal verstanden hat, dass unsere kulturelle Struktur immer nur eine Momentaufnahme ist, die wir ständig neu ausbalancieren müssen, weil wir immer irgendwas an Lebensqualität vergessen oder vernachlässigt haben, kann viel schöpferischer die Zukunft mitgestalten. Das macht uns zu Spirit Makern. Spirit Maker erkennen, was in der Gesellschaft entflochten und neu verbunden werden will im Sinne der kulturellen Evolution. Zusammen mit dem Schweizer Unternehmen Diagnosco habe ich das Spirit Maker Empowerment Programm entwickelt. Mit Hilfe dieses Programms kann jeder sein individuelles Spirit Maker Potenzial ermitteln und herausfinden, wo und wie es am besten zur Anwendung kommt. Ich bin davon überzeugt, dass jeder von uns der Welt etwas zu geben hat, was die Qualität der Kultur und des Lebens weiter entwickelt. Und damit meine ich nicht unbedingt die große Karriere sondern auch das tägliche Wirken in unserem Umfeld.

Du sprichst von der „radikalen Hoffnung in die Zukunft“ – was dürfen wir darunter verstehen?

Für mich verschiebt die Zukunft immer wieder die Grenzen des Vorstellbaren. Wer hätte gedacht, dass solche Themen wie New Work, Frauenquote und Start Up für 16-Jährige mal für unsere Kultur relevant werden? Absolut undenkbar wäre das noch vor wenigen Jahrzehnten gewesen. Und genau diese unglaubliche Fähigkeit zur geistigen Wende um bis zu 360 Grad ist meine radikale Hoffnung in die Zukunft. Wir sind dazu fähig, das Unvorstellbare vorstellbar zu machen. Unsere Kultur biegt mit der nächsten Sehnsucht ab und der Zeitgeist legitimiert unser neues Denken, Handeln und Fühlen. Nehmen wir die Resonanz auf den Krieg in der Ukraine. Noch vor wenigen Jahrzehnten hätte man ein anderes Verständnis für einen Angriffskrieg aus imperialen Gründen gehabt. Das kollektive Mindset war noch viel autoritärer aufgestellt und Autorität braucht Machtdemonstrationen. Der Krieg und seine Anführer wären damals in unseren Breiten anders bewertet worden als heute. Heute fragt man sich, was mit den Personen nicht stimmt, welche mentalen Probleme sie haben, dass sie bereit sind solche Handlungen zu verantworten. Man versucht Ursache Folge Dynamiken nachzuvollziehen, um das Zeitgeschehen eher terrestrisch und nicht nur territorial zu begreifen. Krieg war einmal der Sport der Könige und ist im Laufe der Zeit in der kollektiven Wahrnehmung zu einem großes Unrecht geworden. Das wir das heute so anders verstehen als früher, ist für mich knallharte Zeitgeist Arbeit und gibt mir immer wieder radikale Hoffnung in die Zukunft.

Was können Deutschlands Kreative zum kulturellen Wandel beisteuern?

Kreative sind in der Regel fantastische Resonanzmenschen für Zeitgeist. Ich denke, dass viele schon längst bewusst und unbewusst an der kulturellen Evolution mitarbeiten. Kreative sind oft die Anfänger einer brandneuen Zeit. Sie sind durchlässiger für eine neue Ideengeschichte und empfänglicher für den Sog zu einem neuen Weltverhältnis. Kreative bleiben seltener stecken in der Vernunft der Gegenwart. Zeitgeist Forschung könnte ihnen ihr Tun noch bewusster machen und ihnen ermöglichen, ihr schöpferisches Talent noch mehr auf das kulturelle Unterbewusstsein zu lenken. Das würde den Fokus auf das Erschaffen von neuer kulturelle Heimat für unserer Sehnsucht lenken und der Absicht kulturelle Evolution zu fördern. Das wäre ein neues Level in den Debatten um Fortschritt, Nachhaltigkeit und purpose.

 

„Who’s that Type?“ ist eine exklusive Executive-Eventreihe des ADC in Kooperation mit Monotype. Die geschlossene Online-Veranstaltung bietet Entscheider*innen der Kreativbranche regelmäßig Raum zum Austausch und spannende Impulse eines Surprise Speakers. Weitere Infos gibt es hier