„So Future“ – Erfolgreicher Auftakt für den ADC Creative Club Hamburg
Mit rund 250 Besucher*innen und 8 Präsentationen von Talents, Live-Musik...
Peter Lindbergh war einer der größten Fotografen unserer Zeit, am 03. September 2019 starb er mit 74 Jahren. Schon 1995 wurde er zum ADC Ehrenmitglied gewählt. Damals traf sich Markus Peichl, Ex-Chefredakteur von "Wiener" und "Tempo", mit dem Foto-Genie zum Interview und sprach mit ihm über Werbung, Glamour und Fotografie. Zur Ehrung seines Lebenswerkes haben wir das große Interview, das bislang ausschließlich im ADC Jahrbuch 1996 einsehbar war, digitalisiert. Schon Mitte der 90er sprach Lindbergh von Fake-Fotografie, überlegte gemeinsam mit Peichl, ob er Sozialdemokrat des Glamours sei und gab tiefe Einblicke in sein Verständnis von Schönheit und der Branche.
Peichl: Herr Lindbergh, Ihre Fotos sind sehr erzählerisch. Stimmt das Vorurteil, dass Fotografen zwar in Bildern ausdrücken können, aber nicht mit Worten?
Lindbergh: Da ist was dran. Ich kenne viele Kollegen, die sich mit dem Reden nicht so leicht tun und das durch ihre Fotos kompensieren. Ich spreche auch nicht besonders gerne über meine Arbeit oder mein Leben. Ich bin kein scheuer Mensch, aber ich habe da meine Probleme.
Peichl: Wollen wir das Interview trotzdem weiterführen, oder sollen wir’s lieber gleich abbrechen?
Lindbergh: Einen Versuch können wir schon wagen.
Peichl: Beschreiben Sie doch einmal das letzte Foto, das Sie gemacht haben.
Lindbergh: Das war mit Tina Turner. Ich habe sie für die neue Kampagne von Hanes fotografiert. In Europa kennt man Hanes nur als T-Shirt-Hersteller, aber die erzeugen auch viele andere Textilien. In der neuen Kampagne geht es um Strümpfe. Wir sollten zeigen, dass Hanes-Strümpfe alles aushalten und niemals reißen. Das ist eigentlich eine absurde Botschaft, deshalb wollten wir sie auch mit absurden, drastischen Mitteln umsetzten. Wir sagten uns: Warum binden wir Tina nicht mit den Strümpfen an irgendetwas fest und lassen sie mit dem Kopf nach unten baumeln. Das haben wir dann auch gemacht: Wir haben Tinas Beine an einen Kran geschnürt und sie hochgezogen. Ich stand mit der Kamera direkt unter ihr. Sie hing in der Luft, breitete die Arme aus und lachte mit weit aufgerissenem Mund. Es sah fantastisch aus.
Peichl: Das klingt nach einem ausgefeilten Konzept, das präzise umgesetzt wurde. Normalerweise machen Sie doch Fotos, die aus dem Augenblick heraus entstehen und eher zufällig wirken.
Lindbergh: Das ist richtig. Ich mag Konzept-Fotos eigentlich nicht. Sie wirken meistens leer und tot. In diesem Fall hat es aber funktioniert. Das Ergebnis ist wirklich sensationell. Ich glaube, das liegt an Tina.
In ihr steckt so viel Leben – das ist nicht mal durch ein Werbekonzept totzukriegen.
Peichl: Bis 1978 haben Sie in Düsseldorf gelebt und ausschließlich für die Werbung gearbeitet. Dann sind Sie nach Paris gezogen und Modefotograf geworden. Sehen Sie sich bis zu einem gewissen Grad auch noch als Werbefotograf?
Lindbergh: Nein. Überhaupt nicht. Ich bin Modefotograf, kein Werbefotograf. Wenn ich Werbung mache, dann nur Mode und Parfums. Ich fotografiere viele Kampagnen, aber fast ausschließlich für Designer. Es kommt ganz, ganz selten vor, dass ich mal klassische Werbung mache.
Peichl: Tut Ihnen das Leid?
Lindbergh: Nein. Im Gegenteil. Werbung ist so umständlich. Mode und Editorial sind viel schneller und kreativer.
Peichl: Was stört Sie denn an der Werbung?
Lindbergh: Die Meetings. Die Hierarchien. Die Strukturen. Der ganze Absicherungsmechanismus. Man muss soviel reden und sich dauern in Szene setzten. Es kommt ja höchstens einmal im Jahr vor, dass ich in die Werbeagenturwelt gerate. Da sitze ich dann mit zehn Leuten in irgendwelchen Konferenzen, und jeder steuert seine Bemerkung bei – ob die jetzt hilfreich sind oder nicht.
Peichl: Sind Sie kein Freund von Teamwork?
Lindbergh: Doch, ich liebe Teamwork. Ich brauche den Austausch mit anderen Menschen. Aber was in Werbeagenturen abläuft, ist kein Teamwork. Da geht es nicht um Zusammenarbeit. Da wird nichts gemeinsam entwickelt. Die vielen Meetings dienen doch in erster Linie der Selbstdarstellung. Man setzt sich zusammen, um Strukturen zu erhalten und Hierarchien zur Schau zu stellen. Jeder denkt an seinen Job, seine Position, sein Budget. Jeder muss beweisen, dass er eine Existenzberechtigung hat – die Agentur dem Kunden, der Kundenberater dem Geschäftsführer, der Art Director dem Creative Director, der Art Buyer dem Assisten-Art-Buyer und so fort. Und jeder muss aufpassen, dass er keinen Fehler macht. Jeder muss sich hundertmal absichern, damit es nachher nicht heißen kann: Du bist Schuld, dass die Kampagne nicht funktioniert hat. In einer solchen Atmosphäre kann man nichts kreieren, zumindest nichts Neues oder Mutiges.
Peichl: Bei Modebudgets ist das anders?
Lindbergh: Ja. Weil es da keine Werbeagenturen gibt. Wenn ich Mode- oder Parfum-Kampagnen fotografiere, habe ich es in 90 Prozent der Fälle mit den Designern direkt zu tun. Bei Jil Sander spreche ich mich Jil, bei Calvin Klein mit Calvin, bei Prada mit Prada. Da gibt es keine Schaltstellen oder Zwischenstationen.
Die schnelle, unmittelbare Kommunikation mit den Designern ist für mich sehr wichtig.
Peichl: Bei einem Modeunternehmen macht es sicherlich Sinn, wenn der Chef selbst über die Werbung entscheidet. Bei Maggi sitzt aber leider nicht Calvin Klein im Vorstand, und die Deutsche Bank wird auch nicht von Jean Paul Gaultier geleitet. Solche Unternehmen sind nun mal auf Werber angewiesen.
Lindbergh: Klar, aber die könnten auch mal Werber holen, die etwas Neues wagen. Es müssen doch nicht immer Leute sein, die allen Entwicklungen hinterherhinken.
Peichl: Ist denn ein Top-Modedesigner weiter von als ein Top-Werbe-Artdirektor?
Lindbergh: In neun von zehn Fällen, ja. Das klingt zwar hart, aber es ist leider so. Designer sind Menschen, die kreieren. Artdirektoren sind Menschen, die reproduzieren. Ich werde oft von Werbe-Artdirektoren angerufen, die zu mir sagen: „Peter, wir haben da eine Geschichte von dir gesehen, die hätten wir gerne genauso für den und den Kunden.“ Der Mechanismus funktioniert doch meist so: Ich denke mir im Januar eine Geschichte für „Harpers Bazaar“ aus. Die wird im Februar produziert, im April gedruckt und im Mai veröffentlicht. Im Juni sieht sie irgendein Art Director und reisst sie aus dem Heft aus. Im Juli zeigt er sie seinem Creative Director, und wenn es eine schnelle Agentur ist, arbeiten sie das Foto im August in eine Präsentation ein. Angenommen, sie gewinnen den Etat, dann haben sie bis November intern und extern abgecheckt, ob diese Idee auch wirklich die richtige ist. Nach ein paar weiteren Meetings bekommt der Art Director schließlich Ende Dezember das OK, bei mir anzurufen. Dann habe ich den am Apparat und weiß überhaupt nicht, wovon der redet. Ich bin ja mit meiner Fotografie inzwischen ein Jahr weiter. Die Mode ist weiter, die Trends, die Images, die Ästhetik – alles ist weiter. Nur die Werbung nicht. Wenn Calvin Klein so arbeiten würde, hätte er bestenfalls am Height Ashbury einen Second-Hand-Laden.
Peichl: Und wenn Sie so arbeiten würden, müssten Sie für „Brigitte“ oder „Amica“ fotografieren.
Lindbergh: Ich will das alles gar nicht so abschätzig beurteilen. Werbung muss vielleicht so vorgehen. Die meisten Werbekampagnen dürfen wahrscheinlich gar nicht ihrer Zeit voraus sein, weil sie sonst am Geschmack des Publikums vorbeigehen.
Peichl: Das glaube ich nicht. Das Argument, man könnte den Konsumenten überfordern, halte ich für die einzige wirklich schlimme Werbelüge. Ich kenne keine Kampagne, die der Durchschnittsbürger nicht verstanden hat, weil ihm zu viel zugemutet wurde. Ich kenne aber Hunderte von Kampagnen, die keiner kapiert hat, weil sich der Creative Director zuviel zugemutet hat.
Lindbergh: Mir geht es weniger um das Verhältnis zwischen Kreativen und Konsumenten. Mir geht es um das Verhältnis der Kreativen untereinander. Art Directoren und Creative Directoren verhalten sich immer mehr wie Beamte. Sie gehen kein Risiko mehr ein. Sie setzen immer mehr auf Nummer Sicher. In großen Agenturen sagt heute keiner mehr „Das machen wir.“ Man sagt: „Lass uns das mal testen.“ Dann wird die Grundidee getestet, die Layouts werden getestet, die Copy wird getestet, und wenn alles zu Tode getestet ist, wird die Kampagne realisiert. Am Markt fällt sie dann in 50 Prozent der Fälle trotzdem durch, aber die Tests haben ihren Zweck erfüllt: Niemand kann zur Verantwortung gezogen werden. Es war schließlich alles abgetestet. Ich meine: Wenn alle diese Tests einen Sinn hätten, müssten doch alle Kampagnen Erfolg haben.
Wenn alles zu Tode getestet ist, wird die Kampagne realisiert.
Peichl: Und was bedeutet das für die Fotografen, Illustratoren oder Texter?
Lindbergh: Dass sie keinen Freiraum mehr haben. Die Creative Directoren erwarten von ihnen, dass sie diese Beamtenmentalität an den Tag legen. Die sagen dann: „Hier ist unser Konzept. Hier ist das Layout. Alles ist total durchgecheckt. Du musst es genau so fotografieren.“ Wenn man so arbeitet, kann man nur so gut sein, wie es irgend jemand irgendwann an seinem Schreibtisch war. Fotos – vor allem Fotos mit Emotionalität – entstehen nicht am Schreibtisch. Sie entstehen beim Shooting.
Fotos mit Emotionalität entstehen nicht am Schreibtisch.
Peichl: Aber Sie können doch nicht von einer Werbeagentur verlangen, dass sie zu ihnen sagt: „Hier ist eine Million Mark. Das ist ihr Budget. Jetzt machen Sie mal.“
Lindbergh: Nein, natürlich nicht. Ich rede nicht davon, dass man einfach drauf losrennt und sich willkürlich seinen Inspirationen hingibt. Es gibt Fotografen, die sich das so vorstellen, aber die meine ich nicht. Ich spreche davon, dass alle Beteiligten das Problem erkannt haben, das durch die Kampagne gelöst werden muss. Fotograf, Art Director, Creative Director – alle wissen, welches generelle Ziel erreicht werden muss. Deshalb sind sie bis zum letzten Augenblick flexibel und können bei der Umsetzung der Kampagne alle vitalen, spontanen Eindrücke mit einarbeiten. Es werden ideale Voraussetzungen geschaffen, um Inspiration in ein Konzept einfließen zu lassen. Das Konzept tötet sie nicht ab.
Peichl: Gibt es ein Fotografen-Schlaraffenland?
Lindbergh: Ja, in der Modebranche gibt es das. Zum Beispiel die letzte „Eternity“-Kampagne für Calvin Klein. Calvins einziges Briefing war ein Schlag auf die Schulter und der Satz: „Du bringst mir ein paar tolle Fotos mit“.
Peichl: Das kann aber nicht der ideale Konzeptrahmen sein, von dem Sie gesprochen haben.
Lindbergh: Nein, das ist das Vertrauen, das die Voraussetzung für ein optimales Ergebnis ist. Den Konzeptrahmen haben wir dann intern mit den Eternity-Leuten entwickelt. Zunächst haben wir uns auf die Models geeinigt. Das ging ganz schnell, denn man kennt die Gesichter, die für einen zeitlosen Look in Frage kommen. Dann haben wir überlegt, was Eternity symbolisiert. Es sollte nichts Gegenständliches sein, sondern etwas Unkonkretes. Irgendwann sind wir dann auf zwei Begriffe gekommen. Eternity ist schwarz, und Eternity ist Wasser. Also haben wir gesagt: Wir fahren nach Hawaii, da gibt es diese wunderbaren schwarzen Strände. Schwarzen Sand und Wasser – das war unser Konzept. Die Emotionen, das Spiel der Elemente, alles, was die Kampagne ausmacht, konnten wir dann auf Hawaii mit aller Direktheit realisieren. Ich habe dort nicht nur die Printkampagne gemacht, sondern auch die Kino- und TV-Spots.
Vertrauen ist die Voraussetzung für ein optimales Ergebnis.
Peichl: Wie es sich für Eternity und Lindbergh gehört, natürlich in Schwarzweiss. Warum sind Sie eigentlich auf Schwarzweiss festgelegt?
Lindbergh: Also mit einem Anspruch auf Ewigkeit hat es nichts zu tun. Ich weiß auch nicht genau, woran es liegt. Es ist nicht so, dass ich mir vor dem Shooting vornehme: das machst du jetzt in Schwarzweiss. Ich fotografiere immer alles sowohl in Farbe als auch in Schwarzweiss. In 80 Prozent der Fälle sage ich aber hinterher: Die Schwarzweissfotos sind stärker. Sie haben einfach mehr Persönlichkeit.
Schwarzweissfotos haben einfach mehr Persönlichkeit.
Peichl: Hat das auch was mit Ihrem Hang zum düsteren, deutschen Expressionismus zu tun, dem Sie mit Ihren Fotos gerne mal huldigen?
Lindbergh: Ja, das sagt man mir so nach. Es gibt da sicher auch einen Zusammenhang. Es hat aber sicher auch damit zu tun, dass man durch Schwarzweissfotografie unmissverständlich klar macht: Das ist eine Interpretation von Wirklichkeit, es ist nicht die Wirklichkeit selbst. Irgendwie fühle ich mich wohler, wenn das von vornherein feststeht.
Peichl: Gibt es Bilder für die Ewigkeit? Bilder, die Gültigkeit haben?
Lindbergh: Ich denke, ja. Es gibt Bilder, die einen prägen und die man sein Leben lang im Kopf mit sich herumträgt.
Peichl: Welche Fotos sind das bei Ihnen?
Lindbergh: Fotos von Avedon, von Penn, von Cartier-Bresson. Oder das Foto von Frank Capa, mit dem Soldaten, der gerade erschossen wird.
Peichl: Das Foto ist ein Fake. Macht aber scheinbar nichts. Das Foto wird immer noch auf Postkarten gedruckt und als Anti-Kriegsbild schlechthin verstanden.
Lindbergh: Nein, das stimmt nicht. Als rauskam, dass Capa dieses Bild gestellt hat, hat es für mich seine Magie verloren.
Peichl: Versuchen Sie selbst, Bilder zu machen, die Gültigkeit haben?
Lindbergh: Ja, der Anspruch ist immer irgendwie da. Man darf ihn aber nicht zu dominativ werden lassen. Die gültigen Bilder entstehen nicht, wenn man sie unbedingt machen will. Manchmal hat man so Monate, da gelingt einem kein einziges wirklich gutes Foto. Da setzt man sich hin und sagt sich: Du musst dich mehr anstrengen, dein Blick muss wieder genauer werden, die Sujets müssen mehr Dramatik bekommen. Das hilft dann aber oft gar nicht. Man verkrampft sich und die Bilder werden nicht besser. Und dann lässt du plötzlich los und fotografierst irgend etwas ganz Unbedeutendes und die Bilder werden unwahrscheinlich dicht und stark.
Peichl: Ein gültiges Foto muss also kein spektakuläres Foto sein?
Lindbergh: Nein, im Gegenteil.
Ich habe einen Horror vor spektakulären Fotos.
Mich interessiert das Gefühl, das ein Foto vermittelt. Ich kann nichts anfangen, mit diesen plakativen Gesten, mit dieser Effekthascherei. Zum Beispiel so ein eingeölter Schwarzer, mit einem Wahnsinnskörper, der auf Zehenspitzen dasteht und eine goldene Kugel vorm Kopf hält…
Peichl: Sie beschreiben jetzt ein Foto von Herb Ritts…
Lindbergh: Hat Herb mal so ein Foto gemacht?
Peichl: Eines?
Lindbergh: Das wusste ich nicht. Ich will jetzt nichts schlechtes über Herb sagen. Jedenfalls – du guckst dir so ein Foto an und sagst „Boah!“ aber du fühlst nichts. Und dann siehst du so ein Foto von Cartier-Bresson oder vielleicht sogar von irgendeinem hinterletzten Reporter, und du sagst nur: „Toll. Das berührt mich wirklich“.
Peichl: Ein Plädoyer für die Wirklichkeit von dem Mann, den sie den „Poeten des Glamour“ nennen.
Lindbergh: Ach! Give me a brake! Das haben die vom „Stern“ geschrieben, weil die solche Attribute brauchen. Die wollen eben auch spektakulär sein. Ich kann mit dieser Bezeichnung nichts anfangen. Ich sehe mich nicht so.
Ich lehne Glamour ab. Glamour ist öde, langweilig und leer.
Er spiegelt den Leuten etwas vor, was es nicht gibt.
Peichl: Aber Sie stecken doch mittendrin in der Glamourwelt. Ihre Fotos sind Glamour, ob sie wollen oder nicht.
Lindbergh: Natürlich stecke ich in der Glamourwelt drin, aber ich bediene sie nicht. Ich versuche mit meinen Fotos die Persönlichkeit der Models zu zeigen, nicht ihren Schein. Ellen von Unwerth oder Albert Watson, die machen Glamour. dicke, rote Lippen; große, fette Ohrringe; aufgemotzte, perfekt gestylte Haare. Bei mir werden die Haare zurückgebunden und mit dem Make-up wird eisern gespart…
Peichl: Die deutsche Variante des Glamour halt…
Lindbergh: Niemand kann seine Herkunft verleugnen.
Peichl: Anders ausgedrückt: Nichts trennt deutsche, französische und amerikanische Weltbürger mehr als der gemeinsame Glamour.
Lindbergh: Warum?
Peichl: Der Franzose hat Glamour, der Amerikaner macht Glamour, und der Deutsche weist Glamour von sich, selbst wenn er ihn macht oder hat.
Lindbergh: Ja, vielleicht liegt das in unseren Genen, dass wir Glamour ablehnen müssen. Glamour ist sicher etwas völlig Undeutsches. Wenn man, wie ich, aus Duisburg kommt und Elizabeth Taylor nur aus der „Bunte“ kennt, dann hat man zum Glamour einfach ein anderes Verhältnis. Ich stehe dazu. Ich finde Duisburg toll. Ich finde auch alle Duisburger toll. Die sind viel besser als Pariser oder New Yorker. Die bleiben stehen, wenn man nach dem Weg fragt. Die nehmen sich Zeit. Das ist ein Erlebnis. Ja, es stimmt.
Die Deutschen haben etwas wunderbar Unglamouröses. Das ist eine große Qualität.
Peichl: Ist das auch die Qualität, die Ihre Bilder ausmacht: Dass Sie der Mode- und Glamourwelt mit Ihrer Duisburger Mode- und Glamourversion begegnen? Dass Sie der Scheinwelt ein wenig Realismus entgegensetzen? Dass Sie die Mode-Illusion immer wieder brechen?
Lindbergh: Wenn man es so sehen würde, wäre es für mich ein großes Kompliment.
Peichl: Ich kann Ihnen das Kompliment gerne machen. Für mich beziehen Ihre Fotos genau aus diesem Mechanismus ihre Kraft. Aber sie erfüllen deshalb nicht weniger, sondern vielleicht sogar noch mehr die Funktion eines guten Mode- oder Glamourfotos.
Lindbergh:
Ja, vielleicht bilde ich mir nur ein, dass ich kein Glamour-Heini bin.
Vielleicht breche ich immer nur die Spitze des Eisbergs. Vielleicht nehme ich nur die unerträglichsten drei Prozent weg. Ich will mich ja auch nicht als Revolutionär gegen den Glamour aufspielen.
Peichl: Wahrscheinlich sind Sie eher der Sozialdemokrat des Glamour.
Lindbergh: Also, etwas radikaler sehe ich mich schon. Das wird sich auch nicht ändern. Glamour verkörpert für mich alles, was ich furchtbar finde. Glamour ist ordinär und widerwärtig. Eine Droge fürs Volk, nur dazu da, um die Leute zu verschaukeln. Ich krache auch ständig mit Leuten zusammen, denen dieses übertriebene Glamourgetue am Körper klebt. Mit Cindy Crawford zum Beispiel. Mit der hatte ich einen riesigen Streit, weil ich sie ohne Make-up und ohne aufgedonnerte Frisur fotografieren wollte. Sie schrie mich an: „Das bin ich nicht. Ich brauche die Maquillage. Ich brauche den Glitter, Ich fühle mich sonst nicht wohl.“ Ich habe sie dann trotzdem so fotografiert, wie ich es wollte. Glatte, zurückgebundene Haare; schlichte, fast schäbige Klamotten; kein bisschen Make-up. Drei Wochen später kam sie zu mir und sagte: „Peter, du hattest recht. Mein Mann hat gemeint, das sind die ersten Bilder, auf denen ich so aussehe, wie ich wirklich bin.“
Peichl: Wann sind Sie selbst das letzte Mal fotografiert worden?
Lindbergh: Vor sechs oder acht Wochen. Für die deutsche GAP-Kampagne. GAP hat gerade in Düsseldorf die erste deutsche Filiale aufgemacht. Ich habe die Launch-Kampagne fotografiert – eine klassische Testimonial-Serie mit Prominenten. Am Schluss sagten die GAP-Leute: Jetzt brauchen wir noch ein Foto von dir. Ich habe dann ein Selbstportrait gemacht. Das wird bald in Düsseldorf auf Bussen oder Plakatwänden zu bewundern sein.
Peichl: Was ist das für ein Gefühl, wenn man selbst vor der Kamera steht?
Lindbergh: Es ist furchtbar. Man spürt seine Ängste und Beklemmungen. Alles Neue wird plötzlich physisch. Man merkt, wie man die Lippen aufeinander presst, wie sie die Gesichtszüge verkrampfen, wie man ins Leere starrt. Als Fotograf hat man diese Situation schon tausendmal anders herum erlebt, und dann sitzt man vor dem Objektiv, und statt von seiner Erfahrung als Fotograf zu profitieren, wird man noch befangener. Da wird einem drastisch vor Augen geführt, dass es in der Fotografie eine der größten Qualitäten ist, die Leute vor der Kamera locker zu machen.
In der Fotografie ist eine der größten Qualitäten, die Leute vor der Kamera locker zu machen.
Peichl: Gibt es eine Technik, die Leute locker zu machen?
Lindbergh: Selbst locker zu sein. Früher habe ich zum Beispiel kaum Prominente fotografiert, weil ich nicht so recht wusste, wie ich mit denen umgehen sollte. Ich hatte zu viel Respekt vor ihnen und fühlte mich unwohl. Mit der Zeit habe ich das abgelegt. Jetzt gehe ich auf die Leute ganz normal zu und rede mit ihnen wie mit Duisburgern, die ich nach dem Weg frage.
Peichl: Taugen nur eitle Menschen vor der Kamera?
Lindbergh: Das kommt darauf an. Dumme Eitelkeit ist absolutes Gift. Ich meine damit Eitelkeit, die sich in zwanghafter Selbstkontrolle ausdrückt. Wenn sich Leute vor die Kamera setzen und sofort das Kinn anheben, weil ihnen mal jemand gesagt hat, dass sie dadurch schlanker aussehen, dann weisst du sofort: Das wird hart. Intelligente Eitelkeit hingegen ist sehr hilfreich. Wenn Leute es genießen, fotografiert zu werden, wenn sie sich dir ganz anvertrauen, weil sie wissen, dass nur ein Flirt mit der Kamera ein wirklich gutes Bild hervorbringt – dann macht das dem Fotografen die Arbeit schon leichter. Ich mag aber auch hartnäckige Fälle. Leute, die man knacken muss, empfinde ich als Herausforderung.
Peichl: Gab es schon jemanden, den sie nicht geknackt haben?
Lindbergh: Nein, noch nie.
Peichl: Beobachter sind immer wieder erstaunt, wie familiär und harmonisch es bei Ihnen am Set zugeht. Viele Leute meinen, das Geheimnis Ihrer Fotos bestehe darin, dass Sie zu den Models eine große Nähe und Vertrautheit herstellen.
Lindbergh: Ja. Das ist in meinen Augen die Voraussetzung für ein gutes Foto. Die Mädchen müssen dir vertrauen können. Sie müssen bis in die letzte Faser ihres Körpers spüren, dass du sie zeigen willst, wie sie wirklich sind. Nur dann zeigen sie sich auch selber, wie sie sind.
Gute Fotos müssen absolut ehrlich sein.
Peichl: Dreht sich das nicht auch manchmal um? Gibt es nicht Situationen, in denen die Nähe zu groß wird und ein ehrliches Foto nicht mehr möglich ist?
Lindbergh: Nein. Eine solche Situation kann ich mir nicht vorstellen. Ich möchte die Mädchen ja nicht so schön, so persönlich wie möglich fotografieren. Mein Ziel ist nicht, die Leute anders darzustellen, egal ob schöner oder hässlicher. Sie sollen einfach aussehen, wie sie aussehen.
Peichl: Aber um Schönheit geht’s doch auch.
Lindbergh: Nein, es geht um Persönlichkeit.
Peichl: Ist das wieder so eine deutsche Aversion?
Lindbergh: Nein. Ich habe nichts gegen Schönheit. Im Gegenteil
Peichl: Was ist für Sie Schönheit?
Lindbergh: Intelligenz und Charakter. Ich könnte von niemandem ein schönes Foto machen, den ich langweilig, stupide oder unehrlich finde.
Wer nur gut aussieht, sieht bei mir meistens schlecht aus.
Deshalb bin ich bei der Auswahl der Models auch eingeschränkt.
Peichl: Viele Models verdanken Ihnen das kleine, alles entscheidende „Super“ vor der Berufsbezeichnung. Sie haben fast alle Mädchen entdeckt, die im letzten Jahrzehnt das Frauenbild geprägt haben: Tatjana Patitz, Linda Evangelista, Naomi Campbell, Christy Turlington, Helena Christensen und Kirsten McMenamy. Haben Sie irgendwelche neuen Entdeckungen?
Lindbergh: Im Moment ist das schwierig. Als ich mit Tatjana und Linda zu fotografieren begonnen habe, waren sie sehr jung. Damals, vor zwölf Jahren, haben mich junge Mädchen eben interessiert. Heute ist das anders. Heute interessieren mich Frauen um die 30. Aber Frauen um die 30 entdeckst du nicht.
Peichl: Aber Sie haben Mädchen doch nie als Mädchen fotografiert. Sie waren doch der erste, der ein Model als Frau und Persönlichkeit gezeigt hat. Auch dadurch haben Sie das Frauenbild verändert. Geht das mit den 16-, 17-jährigen von heute nicht mehr?
Lindbergh: Offenbar nicht. Die junge Tatjana konnte man als Frau zeigen, weil sie eine are. Die hat einen Background, einen Charakter. Die hat einen Kopf, nicht nur ein Gesicht. Heute ist das doch eine Industrie geworden. Überall auf der Welt laufen Talentsucher rum, picken kleine Gören aus ihrer Umgebung raus und stecken sie in die gnadenlose Modelmaschinerie. Die können gar keine Persönlichkeit entwickeln. Die lernen, still zu sitzen – das ist alles. Bevor sie einen eigenen Willen oder so etwas wie ein Selbstbewusstsein bekommen, sind sie kaputt-fotografiert oder wieder aus dem Geschäft raus. Bridget Hall zum Beispiel – ich habe mit ihr zusammengearbeitet. Sie kann nichts. Sie kann nicht gucken, sie kann sich nicht bewegen, sie kann sich gar nicht öffnen. Sie ist zu früh etwas geworden, was sie gar nicht ist: ein Supermodel.
Peichl: Das letzte Jahrhundert galt als das Jahrzehnt der Models. Plötzlich kannte man die Mädchen nicht nur vom Gesicht her, sondern auch vom Namen. Peter Lindbergh hat von diesem Boom profitiert und ihn gleichzeitig beeinflusst. Woran lag es, dass Models in den 80ern zu Stars und Identifikationsfiguren aufgestiegen sind?
Lindbergh: Die 80er waren sehr outgoing, sehr visuell, sehr ästhetisch. Da ist es nur logisch, dass diejenigen zu Stars werden, die ihre Gesichter und ihre Körper für diese Visualisierungswelle hingehalten haben.
Peichl: Was halten Sie von der These, dass Models anstelle der Filmstars getreten sind, weil das Kino keine Helden mehr hergibt?
Lindbergh: Ja, das sagt man so. Aber ich glaube, es stimmt nicht.
Die Mode- und Modelbranche ist doch in Wahrheit genauso arm dran wie die Filmbranche. Es weiß nur noch keiner.
Peichl: Welche Rolle spielt Sex beim Fotografieren?
Lindbergh: Eine große. Fotografieren ist schon ein indirekter, erotischer Prozess. Wenn jemand wie Linda vor dir steht, und du guckst ihr den ganzen Tag in die Augen – das ist schon sehr erotisierend.
Peichl: Aber den Augenkontakt haben nur Sie, die Mädchen gucken in die Linse.
Lindbergh: Ja, aber sie wissen, wer dahintersteht. Das bin schon ich, den sie angucken.
Peichl: Das heißt: Die erotisierende Wirkung ist für beide Seiten da?
Lindbergh: Davon bin ich überzeugt.
Peichl: Die Linse schafft keine Distanz?
Lindbergh: Zunächst schon. Aber indem die Kamera zu Beginn des Shootings einen kleinen Paravent schafft, fühlen sich die Mädchen unbeobachtet. Sie öffnen sich mehr (…) Aus der anfänglichen Distanz wird eine Nähe, wie sie sie vielleicht mit einem Freund erleben.
Peichl: Hat Fotografie etwas mit Kompensation zu tun?
Lindbergh: Im übertragenen Sinne, ja. Aber es darf nie zu weit gehen (…)
Ein gutes Shooting ist wie ein intimes Gespräch mit einer fremden Frau.
Du gibst ganz viel von dir, und sie gibt ganz viel von sich. Man erzählt sich was, und wenn du Glück hast, steckt das dann in deinem Foto.
Peichl: Fotografieren Sie auch Menschen, die Ihnen persönlich sehr nahe stehen?
Lindbergh: Ja. Nicht oft, aber gerne. Meine beiden Söhne, zum Beispiel. Und meine Freundin Anne. Ich bin nicht der Foto-Papa, der die Familie den ganzen Tag vor der Linse herumscheucht. Aber ab und an knipse ich sie schon. Die Fotos schleppe ich dann überall mit hin. Ich habe so eine Mappe, da tue ich alle Familienfotos rein. Wenn ich auf Reisen bin, stelle ich die im Hotel auf den Nachttisch. Ich bin ja dauernd unterwegs, da muss man sich mit Fotos begnügen. Man schafft sich eine zweidimensionale Ersatz-Realität, weil die dreidimensionale Realität nicht richtig zustande kommt. Das Privatleben ist bei mir nicht immer geschenkt.
Peichl: Ist Zweidimensionalität für Sie eine Einschränkung oder eine Erweiterung?
Lindbergh: Die Tragik ist, dass sie für einen Fotografen eine Erweiterung ist. Manchmal mache ich von einem meiner Kinder ein Foto – einfach so, irgendwo am Tisch oder beim Spazierengehen. Wenn ich das angucke, habe ich das Gefühl, mehr zu erfahren als im normalen Leben. Das flößt einem Angst ein. Ich glaube, als Fotograf ist man schon sehr stark durch die Zweidimensionalität geprägt.
Peichl: Denken Sie auch manchmal zweidimensional?
Lindbergh: Nein, ich hoffe nicht. Aber die Gefahr ist immer da. Nicht nur in meinem Job.
Peichl: Denkt man als Fotograf nicht in Bildern, wenn man durch die Straßen geht?
Lindbergh: Doch, das schon. Davon kann man sich leider nie ganz befreien. Das ist so ein Sensorium, das man nie ausschalten kann. Man steht an einer Bar und sieht wie jemand im Kerzenlicht ganz merkwürdig beleuchtet ist. Man geht durch den Central Park und sieht, wie sich die Sonne auf eine Art bricht, die man noch nie gesehen hat – sofort fallen dir tausend Storys und Bilder ein.
Peichl: Wie konserviert man diese Eindrücke?
Lindbergh: Aufschreiben. Ich habe immer einen kleinen Block bei mir, in den ich alles hinkritzle.
Peichl: Welches Verhältnis haben Sie zu Ihren Kameras?
Lindbergh: Ein sehr enges. Ich habe zum Beispiel eine Konika-Autofocus-Kamera. Mit der verbindet mich ein richtiges Liebesverhältnis. Die habe ich immer um den Hals hängen. Die ist leicht, scharf, präszise und ganz leise. Und sie ist wunderschön. Ich bin sehr treu, was Kameras angeht. Leider machen einem die Hersteller die Treue nicht leicht, weil sie den Kameras andauernd Faceliftings und Frischzellenkuren verschreiben. Ich mag solche künstlichen Veränderungen weder bei Menschen noch bei Kameras. Ich hasse es, wenn sich Kameras ändern. Mit jedem neuen Modell verliert die Kamera ihre Ungegenständlichkeit. Es dauert dann wieder ewig, bis man die vertraute Selbstverständlichkeit herstellt, die man mit dem Vorgängermodell hatte. Man kann sich dem Wechsel ja nicht entziehen, weil die Hersteller einem die Dinger Gott sei Dank / ungerechterweise immer gratis geben.
Künstliche Veränderungen mag ich weder bei Menschen noch bei Kameras.
Peichl: Wann haben Sie die erste Kamera bekommen?
Lindbergh: 1973. Da war ich 28 Jahre. Ich bin verhältnismäßig spät in diesen Job gekommen.
Peichl: Das war Ihre erste Profikamera. Hatten Sie davor keine Amateurkamera?
Lindbergh: Nein. Meine erste Kamera war gleich eine Profikamera. Ich hatte nie vor Fotograf zu werden, bis ich durch Zufall bei Hans Lux als Kameraassistent begonnen habe.
Ich hatte nie vor Fotograf zu werden.
Peichl: Welche Eigenschaften muss ein guter Fotograf haben, welche sollte er auf keinen Fall haben?
Lindbergh: Die Eigenschaft, die er auf keinen Fall haben sollte: Er darf sich nicht für einen guten Fotografen halten. Sonst hört er auf zu suchen. Die Eigenschaften, die er haben sollte, sind Geduld und Durchsetzungsvermögen. Und zwar beides zusammen. Man muss wissen, was man will, und man muss die Geduld haben, es zu bekommen. Mein Assistent hat mal gesagt: „Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der am Schluss immer kriegt, was er will, obwohl er darüber nie ein Wort verliert.“ Man arbeitet mit den Leuten am besten zusammen, wenn man sie dazu bringt, die Sachen selber zu sagen, wie man gerne will. Wenn man herumbrüllt und Befehle gibt, bringt das nichts.
Als großer Diktator kommt man nicht weit.
Peichl: Als sanfter Diktator?
Lindbergh: Nein. Als Hypnotiseur.
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